Auf dem Parkett der Rezeption!

Text von Jonathan Baumgärtner, veröffentlicht anlässlich der Ausstellung "Materia Prima" im Pavillon 40 der AdBK Nürnberg, © 2015 Matthias Ströckel / Jonathan Baumgärtner

 

Auf dem Parkett der Rezeption!

„Naturae vero rerum vis atque maiestas omnibus momentis fide caret si quis modo partes eius ac non totam conplectatur animo - Aber die Kraft und die Großartigkeit der Dinge der Natur entbehren in all ihren Wechseln der Glaubwürdigkeit, wenn jemand im Geiste nur deren Teile und sie nicht als ganze erfaßt.“
Ein solch gelehrtes Zitat (Plinius, Naturalis Historia), welches im Übrigen auch  Alexander von Humboldts Lebenswerk 'Kosmos' zur Einleitung gereichte, soll nun jene metaphysische Brücke schlagen, die zum Begreifen des künstlerischen Ausdrucks Matthias Ströckels so unbedingt notwendig erscheint.
Denn was auf den ersten Blick so aufgeräumt, zugänglich und fast schon pietätvoll erscheint, stellt sich nur allzu schnell als Herausforderung zum intellektuellen Tanz heraus. Aber weil sich nicht aufdrängt, was trotzdem kein künstlerisches Mauerblümchen ist, bringt die gefeierte Reduktion neben erfrischender Klarheit auch die Notwendigkeit einer geistigen Gehhilfe, um, wenn ein gedanklicher Breakdance mit dem Kunstwerk unmöglich scheint, wenigstens einen Anstandswalzer auf dem Parkett der Rezeption hinzulegen.
Unsere Krücke finden wir also in dem Werk eines antiken Gelehrten, erneut in dem eines neuzeitlichen Naturforschers wieder. Beide beschreiben die Welt und sind der Versuch, sämtliche bekannten Naturwissenschaftliche Betrachtungen in einem enzyklopädischen Standardwerk  zusammenzutragen. Doch viel wichtiger als der zutreffende Hinweis auf die Notwendigkeit einer ganzheitlichen Betrachtung von Ströckels Arbeit (oder Welt) ist der Blick auf die Ideengeschichte des Einleitungszitats. Denn während sich bei Plinius ein Grundgedanke wissenschaftlichen Arbeitens, die ganzheitliche Betrachtung, formuliert, gerät dieser im Kosmos schon zu einem allgemeinen Anspruch gleichwohl an Werk und Rezipienten - man solle bitte den Kosmos in seinem ganzen, universellen Ausmaß betrachten. In den Arbeiten von Matthias Ströckel kommt, aufbauend auf weiteren 200 Jahren Bildungs- und Wissenschaftsgeschichte, die Einsicht dazu, dass jeder Kosmos konstruiert, jede Weltsicht erschaffen und jede Erkenntnis individuell ist.
Der Künstler funktioniert als Laborant der eigenen Disziplinen, als Forscher der sich jenseits von Wissenschaft (sich aber oftmals bereitwillig ihrer Bildsprache bedienend) in Bereichen kultureller und individueller Erkenntnis bewegt - beziehungsweise den Betrachter bewegen lässt und dabei  als  aufmerksamer Kritiker permanent angewandter und scheinbar bewährter Methoden verbleibt.
Erkenntnis bedeutet hier also viel weniger 'Wissen schaffen' als 'Wahrnehmung begreifen', denn das hübsche Spiel mit der eigenen Re- und Perzeption übertrifft die Möglichkeiten von kanonisierter Wissenschaft und Empirie. Die Konfrontation mit Logiken, Bildern und Aussagen erfolgt dabei subtil, in einer vertrauten  Formensprache, an deren Aussagen schlichtweg geglaubt wird, weil sie sich vor allem an Formen  der institutionalisierten Inszenierung von Information bedient.
Über das persönliche Brechen mit der hier offenbar vermittelten Wahrheit gerät der Rezipient in eine Rangelei der Glaubwürdigkeit zwischen (Kunst)Museum, Sachbuch und Pop. Entgratet entzieht sich das Werk also der Frage nach der sachlichen Richtigkeit. Die individuelle Erkenntnis tritt vor die allgemeine Wahrheit und überlagert sich mit ihr auf der Sachebene - so verbleibt der stetig konstruierende Betrachter als Universalgenie, zugleich geschmeichelt und verspottet:

denn zusammen mit dem Wissen trägt das denkende Wesen seine Sichtweise als Last mit sich herum und so bleibt dem Erkenntnisstrebenden nichts übrig als selbst, wie Atlas, die eigene Konzeption von Welt von den Schultern zu werfen und sich ganz dem permanenten Vermessen, Ausloten und Hinterfragen zu überlassen. Durch Ströckels Arbeit kann jede gezogene Verbindung, jede aufgezeichnete Bewegung, jeder kleine seismische Impuls dazu gereichen, um auf diese neue Welt zu blicken.

 

Jonathan Baumgärtner

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